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von Hans-Joachim Freinatis
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Leben kann man nur vorwärts,
das Leben verstehen nur rückwärts (Sören Kirkegaard) |
Immer mehr Menschen suchen nach ihren Wurzeln. Die Familienforschung kann aber sehr mühselig sein. Hilfe in mannigfacher Form bieten genealogische Vereine (Regional: Arbeitskreis Familienforschung der Emsländischen Landschaft für die Landkreise Emsland und Grafschaft Bentheim, 49716 Meppen/Ems, Ludmillenstr. 8) und einführende Literatur (Für den Anfänger: Franz J. Burghard: Familienkunde, Karl Thomas Verlag Meschede. Für den Fortgeschrittenen: Ribbe, Henning: Taschenbuch für Familiengeschichtsforschung, Verlag Degener & Co.)
Trotz allem – suchen muß der Interessent schon selbst. Wer nach Überwindung einiger bürokratischer Hürden endlich in einem Archiv vor dem Lesegerät sitzt und in dem verfilmten Kirchenbuch oder Akten blättert und dann entmutigt feststellt, daß er die alte Schrift nur schwer entziffern kann, der wäre wohl sehr dankbar, wenn die neuen Kommunikationsmittel diese Suche erleichtern würden.
Auch mancher Bürger von nebenan, insbesondere der jungen Jahrgänge, würde entdecken wie interessant Heimatgeschichte ist, wenn er nur Zugang zu originalen Quellen hätte, die ohne zu großen Aufwand auch für ihn zugänglich wären. Deshalb war ich schnell überzeugt als mir Geert Vrielmann-Jacobs, geschichtlich interessierter Heimatfreund und Mitglied des VVV-Vorstandes Uelsen, das alte Verzeichnis brachte und um eine Übertragung bat.
Ich habe diese Arbeit nicht bereut: Während ich die fast 1000 Namen schrieb, meine Augen den schwungvollen Schriftzügen folgte, anfangs stockend, dann immer flüssiger, häufig aber auch von Unsicherheit geplagt, tauchte ich in das Uelsen vor 150 Jahren. In meinen Gedanken wurde die damalige Zeit lebendig, ich fand bestätigt, was ich in der einschlägigen Literatur über das Kirchdorf gelesen hatte, es sprachen die ortstypischen Namen und die Statistik zeigte, was von der "guten, alten Zeit" zu halten war. Lohn genug für die Mühe.
Was berichtet das Einwohnerverzeichnis?
Am 7. Dezember 1855 bestand das Dorf Uelsen aus 200 Wohnhäusern, in den 476 männliche und 503 weibliche Einwohner lebten. Die Aufstellung erfolgte in der Reihenfolge der Hausnummern (Gegenüber dem Jahr 1821 ist das eine Zunahme von 116 Personen, spätere Zählungen zeigen die umgekehrte Tendenz).
Als Bürgermeister wirkte Christian F. Wedekind. Er ist zu diesem Zeitpunkt 63 Jahre alt (Wedekind ist bereits seit 1843 im Amt und wird es noch bis 1869 sein. Diese Jahre gehören zu einer wirtschaftlichen Notzeit, ausgelöst durch harte Winter, Mißernten und geringe Verdienstmöglichkeiten*).
In Uelsen gehörten 95,5 % der Einwohner der ev.–reformierten Konfession an. Die Angaben "Lutheraner" (23) und "Katholiken" (5) findet man bei den "Zugereisten", insbesondere den Familien der Grenzaufseher und Steuereinnehmer. Auch der Bürgermeister, jedoch nicht seine Familie, ist lutherischer Konfession. Erstaunlich, daß in der Spalte "sonstige christl. Sect." niemand gekennzeichnet wurde. 17 Einwohner werden als Israeliten bezeichnet.
Prediger ist Leonhard van Nes, ein Name, der in der heimatkundlichen Literatur noch oft genannt wird. Er ist noch jung, und seine zwei Kinder befinden sich im zarten Alter.
Im Dorf lebt noch der sich im Ruhestand befindliche reformierte Prediger Lampmann. Bemerkenswert: Seine Frau wird in der Spalte der Lutheraner geführt (Lampmann, von 1828 – 1849 im Amt, erlebte 1838 die "Abscheidung" von 40 mit dem Gottesdienst unzufriedenen Personen aus dem Kirchspiel, die eine eigene Gemeinde gründeten (Altreformierte)*).
Als Arzt praktizierte der Doktor der Medizin H. L. Criegee, ein Name, der noch heute in der Grafschaft vertreten ist.
Wie es sich für ein geordnetes Gemeinwesen gehört, finden sich: ein Polizeidiener, 2 Nachtwächter, ein Feldhüter, ein Kuhhirt, eine Hebamme, ein Steuereinnehmer plus Diener, ein Chausseewärter plus Aufseher und 5 Schullehrer, wobei die Reihenfolge der Aufzählung nichts über die Bedeutung dieser Tätigkeiten in jener Zeit aussagt.
An der Spitze der am häufigsten genannten Berufe steht der "Weber" mit 25 Nennungen, davon 4 "Schnellweber". Es ist zu vermuten, daß der "Fabrik-Vorsteher" und der "Fabrikant" sich mit den Webereien beschäftigten (Es ist heute weitgehend vergessen, daß in Uelsen und Umgebung, bevor die Abwanderung nach Nordhorn begann, die höchste Anzahl an Webstühlen der gesamten Niedergrafschaft gestanden haben. Sogar eine Webschule hat es gegeben.*).
Noch vor den "Kleidermachern" mit 15 Nennungen rangieren die Einwohner, die mit irgendeinem Handel ihren Unterhalt verdienten: Kaufmann, Händler, Krämer und Höcker (etwas verhökern).
12 Gast- und Schankwirte scheinen für das Dorf eine relativ hohe Zahl zu sein. (Gegenüber der Statistik von 1808 ist die Zahl aber um die Hälfte gesunken. "Die vielen Schankwirte sind nicht unbedingt ein Zeichen der Trinkfreudigkeit in 'guter alter Zeit'. Sie hatten vielmehr besondere Funktionen als Herbergen zu erfüllen. Uelsen lag an der Heer-, Hanse- und Poststraße Bremen – Lingen – Zwolle – Amsterdam. Diese Straße wurde nicht nur von der Postkutsche oder von schweren Frachtfuhrwerken, sondern auch von den "Pickmaijern" (Hollandgängern) stark freqentiert". (Willi Friedrich)*
Man findet Zimmermänner (15), Holzschuhmacher (9) und Schuster (7), Schmiede, Faßbinder, Dachdecker und einen Uhrmacher, alles Berufe, die zur Versorgung eines Gemeinwesens notwendig waren und ein bescheidenes Auskommen sicherten. Voraussetzung war eine Grundversorgung aus Garten und als Ackerbürger. Diejenigen, die kein Handwerk erlernt hatten, firmieren in der Aufstellung als Arbeitsmann bzw. Arbeiterin. Daß der Wohlstand in den personenreichen Familien mehr als bescheiden war, erkennt man an der geringen Zahl an fremden Hilfen (Dienstmägde). Nur der Prediger hatte zwei.
Uelsen gehörte zum Königreich Hannover. Besondere Sympathie für das Regentenhaus, die sich anderenorts in der Benennung der Kinder nach der Königsfamilie ausdrückt, ist hier nicht festzustellen. Die häufigsten Namen sind Hendrik, Hindrik, Hendrika, Hendrikje. Da wird es nicht verwundern, daß der Bürgermeister Wedekind nur mit seiner vorgesetzten Behörde in der hochdeutschen Sprache verkehrte, Verlautbarungen an seine Bürger aber in der holländischen abgefaßt waren.
Es gibt noch viel mehr zu entdecken. Die Einwohnerliste von 1855 ist eine Fundgrube. Nicht nur für diejenigen, die auf der Suche nach ihren Ahnen sind, sondern auch für alle an der Heimatkunde, Geschichte und Soziologie Interessierten. Daß sich darunter auch der eine oder andere junge Surfer, eigentlich auf der Suche nach einer Power-Site, befinden möge, ist meine stille Hoffnung.
Hier zum Einwohnerverzeichnis 1855 |
Quellen (und empfehlenswerte Literatur):
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Erstellt: 23.11.2000, letzte Änderung: 10.07.2005
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