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Der Hof Nordbeck vor 100 Jahren

- Ein Rückblick auf das ländliche Leben im Kirchspiel Uelsen -

Von Geert Vrielmann-Jacobs

Nach wie vor laufen die Dinge gut auf dem Nordbeckschen Hof in Hardingen. Wie eh und je wird auch im hier näher beschriebenen Jahr 1899 die Alltagsarbeit verrichtet. Der jahreszeitliche Zyklus bestimmt die Abfolge der Tätigkeiten drinnen und draußen. Die Menschen auf dem Hof halten sich ebenso an andere Vorgaben: Die Sonntagsruhe mit dem Gottesdienstbesuch, die Teilnahme an besonderen Ereignissen im Kreis der Verwandten und in der Bauerschaft und die Wahrnehmung von Terminen im privaten und öffentlichen Bereich. Nichts kommt zu kurz. Ob das für alle Familienangehörigen gilt ?

Harmen Norbecks Tagebuch

Seit mehr als 30 Jahren führt Harmen Nordbeck Tagebuch. Keine spannenden Geschichten, keine dramatischen Ereignisse, statt dessen ein paar Stichworte abends im Schein der Peroleumlampe mit gespitztem Bleistift in weniger als einer Viertel Stunde hingeschrieben, in einer Zeit, in der die Motorisierung und die Elektrizität noch nahezu unbekannt waren.

Harmen Nordbeck

Harmen Nordbeck
1834 - 1909
(Aufnahme ca. 1860-1870)

Als 32-Jähriger hat Bauer Nordbeck im Jahr 1867 damit begonnen, Vorgänge auf seinem Hof und in seiner Familie jeden Tag schriftlich festzuhalten. Immer sind die wesentlichen Daten zur jeweiligen Wetterlage festgehalten, fast ohne Ausnahme sind täglich die anfallenden Arbeiten auf dem Hof vermerkt : Plaggen stechen, Buschen für den Bäcker holen, 2 Fuder Schweinemist zum neuen Kamp, am 18.2.1899 werden die letzten Steckrüben verfüttert, Kartoffelland eggen, 225 Liter Hafer säen (29.3.99), 1 Tag später pflanzt man 4 Körbe Geldersche Kartoffeln, Runkelrübenkerne legen (24.4), Bohnenstangen schlagen, am 8. Juni ist eingetragen: pflügen, eggen, walzen und Steckrübenkörner legen. Am 17. Juli kommen die Kühe zum ersten Mal zur Weide und 3 Tage später beginnt die Roggenernte. Fenne Haamberg erhält fürs Binden und Garbenschießen 11,50 Mark (pro Tag 1.50 Mark). Im September fängt die Kortoffelernte an, vorher müssen noch die Körbe geflickt werden. Im Spätherbst, wenn es sonst nichts tun gibt, gehen die Männer unters Dach zum Dachstroh-Schütteln.

Nordbecks Hof ist nicht nur wegen der eigenen mit Wasserkraft betriebenen Kornmühle und der angegliederten Bäckerei ein außergewöhnlicher Hof. Gleichbedeutender Betriebszweig neben der Landwirtschaft ist die Forstwirtschaft . In einem für die Grafschaft einmaligen Vorgang ist es dem Hofbesitzer gelungen, mit dem Fürsten zu Bentheim ins Geschäft zu kommen. Auf dem neu erworbenen Boden (Fürstenkamp) pflanzten Nordbecks Leute im Jahr 1867 vier Fuder kleiner Tannen (wahrscheinlich Fichten). Im Jahr 1898 zählten fleißige Helfer 11126 Bäume, deren Dicke in 1 Meter Höhe mindestens 20 cm betrug. Am 27.1.1899 läßt sich die Ziegelei Deppe aus diesem Bestand 400 Gerüststangen liefern. Im September hat die Mühle Wassermangel und im Winter kommt es bei Instandsetzungsarbeiten an der Mühlenrinne zu einem bedauerlichen Unfall. B.-J. Momann aus Hilten, der vor ein paar Monaten den Mietvertrag für eine Heuermannsstelle unterschrieben hat, erleidet einen Beinbruch.

Forstwirt Nordbeck hat die Zeichen der Zeit erkannt. Wenn auch der Widerstand in der Bevölkerung noch groß ist gegen dieses Symbol der Weihnachtszeit, so ist doch mit dem Verkauf von Weihnachtsbäumen ein gutes Geschäft zu machen. 81 Exemplare wurden verkauft, Hilbrink in Neuenhaus erhält allein 19 Stück. Sämtliche Einnahmen und Ausgaben sind genau aufgeführt. Eine Lesemappe für den Leseverein Hardingen gekauft bei Jakobs kostet 1,25 Mark, für einen von Brink übernommenen Kirchensitz muss 6,69 Mark bezahlt werden. Der Gegenwert für ein Rind (Schmuggelstarke genannt Rose) beträgt 210 Mark. Zwei von Aalderink erworbene Ferkel erbringen 12 Mark.

Über die persönlichen Lebensumstände des Tagebuchschreibers erfährt der Leser dagegen nur sehr selten etwas. Um so rätselhafter ist deswegen folgende Notiz: 20.3.1899 125 gr. Opium von Dr. Regenbogen 0,90 Mark. Ein einziges Mal gibt Harmen Nordbeck Auskunft über seine Gesundheit. Am 18. September kann er das Haus wegen Rückenschmerzen nicht verlassen.

Das offene Feuer und die neue Technik

Viele Eintragungen beziehen sich auf seine politischen Aktivitäten. Als gerade wiedergewähltes Kreisausschussmitglied nimmt er an regelmäßig wiederkehrenden Sitzungen teil. Auch hält er sich beim Provinzial-Landtag in Hannover auf. Einen großen Teil seiner Arbeitszeit nimmt die Leitung seiner "Nordbeckschen Versicherung" ein. Als "Baas" scheint er ein gutes Gespür dafür zu haben die Knechte und die zahlreichen Heuerleute regelmäßig an die Arbeit zu bekommen.

Harmen Nordbeck hat allen Grund zufrieden zu sein. Die Frauen im Haus müssen sich derweil mit moderner Technik befassen. "Fenna I" (die Ehefrau) und "Fenna II" (die Tochter und junge Mutter) dürfen sich über die Anschaffung der Kochmaschine freuen. Am 26. April wurde sie bei Liese in Neuenhaus für 156 Mark gekauft. Damit hat das offene Feuer ausgedient und eine Gefahrenquelle für die kleinen Kinder ist beseitigt. Aber der Umgang mit dem neuen Herd muss erst gelernt werden. Für heutige Zeitgenossen ist nur schwer vorstellbar, dass es noch manch einen lebenden Zeitzeugen geben mag, der das offene Feuer als die eine zentrale Energiequelle in der Wohnung seiner Kindheit erlebt hat.

Zwar schreibt der Chronist darüber nichts, aber die Genugtuung über die erfreuliche Entwicklung in seiner Familie ist ihm anzumerken. Die Ehe seiner Tochter, die der fürsorgliche Vater möglicherweise selbst eingefädelt hat, bleibt nicht kinderlos. Die Hochzeitsfeier und vor allem die aufregende Reise mit 4 Pferdefuhrwerken und 28 Personen nach Brögbern zum "Aufholen" des Bräutigams Heinrich Tieding sind den Leuten auf dem Hof und in Hardingen noch im Gedächtnis.

Verlobungsanzeige
Das neue Paar
Verlobungsanzeige aus dem
"Zeitungs- und Anzeigenblatt"
Fenna Nordbeck und Heinrich Tieding,
die jungen Leute auf dem Hof

Das erste Kind - die kleine Frieda (geb. am 28.8.1897)- ist recht flügge. Sie ist noch kein Jahr alt, als ihr Opa stolz die Eintragung vornimmt: Frieda erster Gang. Als sie 10 Monate alt ist, steht die Pocken-Schutzimpfung an. In Uelsen ist bekannt geworden , dass infolge einer solchen Maßnahme ein kleines Mädchen erblindet ist. Ob das der Grund dafür ist, sich nicht dem Hausarzt Dr. Regenbogen anzuvertrauen? Die Impfung nimmt Dr. Harger in Lage vor. Das zweite Kind Harmine Frederike wird am 31.10.1898 geboren. Und wieder finden im Hause Norbeck wie schon im Jahr zuvor nach alter Tradition die Taufvisiten statt...


Familienfoto

Familienglück auf dem Hof Nordbeck
Die Kinder von links nach rechts:
Frieda Tyding-Nordbeck, geb. 28.8.1897, gest. 9.3.1960
Franzine Tyding-Nordbeck, geb. 30.1.1902, gest. 19.12.1963
Harmine Tyding-Nordbeck, geb. 31.10.1898, gest. 4.1.1988
Anna Tyding-Nordbeck, geb. 14.7.1900, gest. 12.2.1993

Sehnsucht nach der Heimat

Heinrich Tieding ist jetzt seit 3 Jahren in Hardingen. Schnell wächst er in die Rolle hinein, die ihm seine Familie und insbesondere sein Schwiegervater zugedacht haben. Er erledigt die anfallenden Arbeiten, tätigt eigenverantwortlich Einkäufe (z.B. am 9.11. die Schmuggelstarke), besucht mit seiner Schwiegermutter, manchmal mit seiner Frau, den Markt in Uelsen oder Neueuhaus. Einmal fahren die beiden Männer mit der Tilbury nach Ootmarsum, sie müssen aber auf halbem Weg umkehren, weil sie bei Weersink zu Fall gekommen sind.

Am 18. Januar 1899 ist Heinrichs vorläufig letzter Jagdtag. Zwei Hasen hat er geschossen. Am 21. September beginnt in Hardingen die neue Jagdsaison.

Oft – vielleicht zu oft – zieht es Heinrich Tieding zurück in seine emsländische Heimat. Am Anfang des Jahres sucht er Dr. Salfeld in Lingen auf. Er übernachtet in seinem Elternhaus und kehrt am nächsten Tag zu Nordbecks zurück. Im März macht er sich mit Jonker (Höcklenkamp ?) auf nach Brögbern. 6 Wochen später fährt er mit "Fenna I" nach Freren, um J.A. Hannink zu besuchen, "welcher sehr krank ist". Eine Woche später ist dessen Beerdigung.

Am 24. Mai kommen Herr und Frau Tieding, Marie und eine Tante zu Besuch in die Niedergrafschaft. 3 Tage später bringt Heinrich die Brögbernsche Familie zum Bahnhof nach Neuenhaus. Angereist waren sie mit Pferd und Wagen. Diese darf Heinrich am 2. Juni zusammen mit seiner Schwiegermutter auf den Tiedingschen Hof zurückbringen. Am 17. Juni ist Heinrich in Brögbern, um Einladungen auszusprechen. Auf das bevorstehende Ereignis freut er sich ganz besonders. Tiedings Heuerleute treten am Donnerstag, dem 22. Juli die lange Reise nach Hardingen an um Heinrichs neue Familie, den Hof, die Mühle und Hardingen selbst kennenzulernen.

Auf der großen Kutsche des Lingener Lohnkutschers Johanninkmann haben Platz genommen: B. Wolthaus und Frau K. Wolthaus, B. Bakel, A. Wolthaus und Mutter, H. Lömker und Frau, H. Dust, H. Talle, Witwe Moos, H. Hilbers und der Kutscher. Nordbecks erweisen sich als gute Gastgeber. Schnaps von Lankhorst ist auch im Haus und das emsländische Platt beeinträchtigt die Verständigung nicht. "Up en Been kann man nich stoan" , "wat sik tweet, dat dreet sik !"

Das erste Fahrrad

Etwas wehmütig nimmt Heinrich Tieding am späten Nachmittag Abschied und die Reisegesellschaft beschäftigt die Frage, ob es "ihr" Heinrich in der Fremde "wohl gut" getroffen hat. Das nächste Wiedersehen lässt nicht lange auf sich warten. In der Woche vor der beginnenden Roggenernte begeben sich die jungen Eltern mit "Minchen" (Harmine, nach Opa benannt) für ein paar Tage nach Brögbern.

Nach der Ernte, der Roggen und der Hafer sind eingefahren, setzt Heinrich einen lange gehegten Plan in die Tat um. Seit kurzem ist er stolzer Besitzer eines Fahrrades. Sein Schwiegervater hat großzügigerweise die Hälfte des Kaufpreises von 210 Mark übernommen und erwähnt die Neuanschaffung in seinem Tagebuch übrigens nur unter der Rubrik "Ausgaben". Gut gelaunt schwingt sich der junge Hofnachfolger bei dunkelem aber trockenem Wetter und verfolgt von den besorgten Blicken seiner Angehörigen auf seine "Fietse" und führt sie Stunden später in Brögbern vor.

Tags darauf am 13.August 1899 hält Pastor Bode in Uelsen die Erntepredigt ( Joh. IV, 35-36 ). Am Jahresende steht der Wechsel ins 20. Jahrhundert an ...

Siehe auch:


Ein Beitrag von Geert-Vrielmann Jacobs. Eingesandt am 8.01.2001. Dieser Beitrag erschien bereits im 'Grafschafter' 2/2000.

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Erstellt: 08.01.2001, letzte Änderung: 11.07.2005    www.Uelsen-und-Umgebung.de